Dieser Beitrag wurde gemeinsam mit Marlene Lindemann, Rechtsanwältin im Public Sector, verfasst.
Auch Auftraggeber stehen aktuell aufgrund der Covid-19-Pandemie vor besonderen Herausforderungen. Es wird von ihnen erwartet, kurzfristig dringend benötigte – gegebenenfalls immer knapper werdende – Waren- und Dienstleistungen, beispielsweise Schutzausrüstung, Hygieneartikel oder technische Ausstattung zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Verwaltung zu beschaffen und dabei gleichzeitig wirtschaftlich und vergaberechtskonform zu agieren. In diesem Zweispalt der Interessen empfinden Auftraggeber das Vergaberecht vielfach als starres Regelwerk, das keinerlei Raum für innovative, flexible und strategische Lösungen in der Beschaffung lässt.
Mit diesem „Irrglauben“ räumt die EU-Kommission („Kommission“) in ihrer aktuellen Mitteilung vom
1. April 2020 (erneut) ausdrücklich auf (abrufbar hier).
Wie bereits eine Vielzahl aktueller Rundschreiben auf Bundes- und Landesebene verweist auch die Kommission darin zwar zunächst auf die „klassischen“ Mechanismen, die das geltende Vergaberecht für Auftraggeber zur Beschleunigung von Vergabeverfahren bei kurzfristig entstehenden Beschaffungsbedarfen bereithält (beispielsweise Nutzen von Fristverkürzungsmöglichkeiten, Zulässigkeit der Wahl des Vergabeverfahrens ohne Teilnahmewettbewerb, Direktvergabe).
Die Kommission geht in ihrer Mitteilung jedoch deutlich weiter: Sie ruft Auftraggeber aktiv zur Interaktion und Kooperation mit Marktteilnehmern auf, um gerade in Krisenzeiten das Potenzial und das Know-how des Marktes sinnvoll zugunsten einer beschleunigten, flexiblen Beschaffung zu nutzen. Aus Sicht der Kommission ergeben sich aus einer solchen Interaktion unter anderem folgende Chancen und Möglichkeiten für Auftraggeber:
Die Kommission gibt ferner einige – nicht abschließende – Hinweise dazu, in welcher Form aus ihrer Sicht eine Interaktion mit dem Markt grundsätzlich erfolgen kann.
Diese umfassen unter anderem die unmittelbare Kontaktaufnahme mit Auftragnehmern oder Lieferanten per Telefon, per E-Mail oder persönlich, die Ansprache mithilfe digitaler Instrumente und Formate (etwa Hackathons) sowie die Zusammenarbeit mit bestehenden Unternehmernetzwerken.
Mit ihrer aktuellen Mitteilung bestätigt die Kommission konsequent das von ihr bislang verfolgte Ziel,
die Vergabe öffentlicher Aufträge nicht an einem „rein administrativen“, sondern an einem kooperativen, „an strategischen Zielen und Bedürfnissen“ orientierten Ansatz auszurichten (Mitteilung der Kommission vom 3. Oktober 2017, abrufbar hier).
So hat der Richtliniengeber bereits im Zuge der Vergaberechtsmodernisierung 2016 unter anderem mit dem Verhandlungsverfahren (§§ 17 VgV, 15 SektVO, 3 b EU Abs. 3 VOB/A), dem wettbewerblichen Dialog (§§ 18 VgV, 17 SektVO, 3b EU Abs. 4 VOB/A), der Innovationspartnerschaft (§§ 19 VgV, 18 SektVO, 3b EU Abs. 5 VOB/A) sowie der Markterkundung (§§ 28 VgV, 26 SektVO) verfahrensspezifische Mechanismen verankert und detailliert, denen ein hohes Maß an Kooperation, Dialog und Flexibilität immanent ist. Die Bedeutung flexiblen Handelns in technischer Hinsicht hebt die Kommission in ihrer aktuellen Empfehlung vom 8. April 2020 für ein gemeinsames Instrumentarium für den Einsatz von Technik und Daten in der aktuellen Pandemiesituation, insbesondere im Hinblick auf Mobil-Apps, besonders hervor (abrufbar hier; siehe dazu auch KPMG, Public Sector Insights, Ausgabe 4/2020, Covid-19-Spezial).
Auftraggeber sind gut beraten, diesen Türöffner der Kommission zu Mechanismen und Möglichkeiten der Kooperation mit dem Markt und zu einem flexiblen Handeln sowie die sich daraus ergebenen Chancen für sich und ihre Beschaffungsvorhaben sinnvoll projektspezifisch zu nutzen. Dass dies unter Einhaltung aller vergaberechtlichen Regeln und Grundsätze, insbesondere der Transparenz und Gleichbehandlung, erfolgen muss, ist und bleibt dabei selbstverständlich.
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