Mit seinem Urteil vom 18. Januar 2022 (Rs. C‑261/20) hat der EuGH überraschend entschieden, dass bei Streitigkeiten zwischen Privatpersonen die Höchst- und Mindestsätze der alten HOAI von den nationalen Gerichten weiterhin berücksichtigt werden können. Somit liegt die Sachentscheidung erneut bei den nationalen Gerichten. Zugunsten der in einem solchen Rechtsstreit unterlegenen Partei hält der EuGH einen Schadensersatzanspruch gegenüber dem Staat wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht für möglich.
Ausgangslage
Ausgangspunkt war eine beim BGH anhängige Revision einer Immobiliengesellschaft, die eine Erhöhung des Vergütungsanspruch eines Ingenieurs – eine sogenannte Aufstockungsklage – abwehren wollte. Der Ingenieur begehrte die Aufstockung seines 2016 vereinbarten Honorars entsprechend der Mindestsätze nach der alten HOAI 2013.
Die ersten zwei Instanzen sprachen dem Ingenieur das erhöhte Honorar unter Anwendung der Mindestsätze zu. Schließlich sei der Ingenieurvertrag unter Geltung der Mindest- und Höchstsätze gemäß § 7 HOAI 2013 zwischen zwei Privaten geschlossen worden. Die Immobiliengesellschaft berief sich hiergegen auf das Urteil des EuGH vom 4. Juli 2019 und argumentierte, die Mindest- und Höchstsätze der HOAI 2013 verstießen danach gegen Unionsrecht und die nationalen Gerichte hätten den Anwendungsvorrang des Unionsrecht auch bei Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten zu beachten.
Die Frage der Verbindlichkeit der alten Mindest- und Höchstsätze zwischen Privaten haben die nationalen Gerichte bislang unterschiedlich beantwortet. Hierzu hatte KPMG Law bereits berichtet: https://kpmg-law.de/mandanten-information/hoai-mindestsaetze-europarechtswidrig-und-nun/
Der BGH hatte das Revisionsverfahren mit Beschluss vom 14. Juli 2020 ausgesetzt und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt (BGH, Beschluss vom 14.07.2020, Az. VII ZR 174/19).
Der Generalanwalt beim EuGH Maciej Szpunar hatte in seinen Schlussanträgen vom 15. Juli 2021 gegen die Anwendung der alten Höchst- und Mindestsätze bei Architekten- und Ingenieurverträgen auch zwischen Privaten argumentiert. Er stützte seine Überlegungen im Wesentlichen auf die aus den Grundrechten der EU folgende Vertragsfreiheit. Näheres zu den Schlussanträgen haben wir hier dargestellt: https://kpmg-law.de/newsservice/generalanwalt-beim-eugh-mindest-und-hoechstsaetze-der-hoai-auch-in-altfaellen-zwischen-privaten-nicht-mehr-anwendbar/
Entscheidung des EuGH vom 18. Januar 2022
Der EuGH sieht das anders und kommt zu folgendem Ergebnis (Tz. 37):
„Das vorlegende Gericht ist daher nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, § 7 HOAI unangewendet zu lassen, auch wenn diese Regelung gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 verstößt.“
Zwar gehe das Unionsrecht dem Recht der Mitgliedstaaten grundsätzlich vor und alle mitgliedstaatlichen Stellen seien verpflichtet, den Vorschriften der Europäischen Union volle Wirksamkeit zu verschaffen (Tz. 25). Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer europäischen Richtlinie heranzuziehen, finde jedoch in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und dürfte nicht als Grundlage für eine Auslegung gegen formal gültiges nationales Recht (contra legem) dienen (Tz. 28).
Hierbei seien auch die Natur und die Rechtswirkungen von europäischen Richtlinien zu berücksichtigen (Tz. 31). Eine Richtlinie kann nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor dem nationalen Gericht nicht möglich ist. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV besteht nämlich die Verbindlichkeit einer Richtlinie nur gegenüber dem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird. Für eine unmittelbare Wirkung gegenüber Privatparteien ist die Union auf den Erlass von Verordnungen beschränkt (Tz. 32).
Bemerkenswert ist, dass der EuGH in seinem Urteil über mehrere Seiten hinweg ungefragt auf die Möglichkeit von unionsrechtlichen Schadensersatzansprüchen der unterlegenen Partei gegen den Mitgliedsstaat hinweist (Tz. 41 ff.). Der von den Mindest- bzw. Höchstsätzen betroffene Private habe letztlich keinen Einfluss auf die fehlende gesetzgeberische Korrektur. Sehe er sich aufgrund einer verzögerten Umsetzung einem höheren Vergütungsanspruch ausgesetzt, komme grundsätzlich ein Regressanspruch gegenüber dem Mitgliedsstaat in Betracht.
Bedeutung für die nationale Rechtspraxis
Der EuGH entscheidet im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens lediglich über die Auslegung von Unionsrecht. Die endgültige Entscheidung, ob zwischen privaten Parteien die Mindest- und Höchstsätze nach § 7 HOAI 2013 in Altfällen weiterhin angewendet werden, hat der EuGH an die nationalen Gerichten zurückgespielt. Es bleibt zunächst abzuwarten, wie der BGH im Rahmen der anhängigen Revision mit diesem Urteil des EuGH umgehen wird.
Zuletzt hatte der BGH in seiner Pressmitteilung Nr. 59/2020 zum Beschluss vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) allerdings bereits zu erkennen gegeben, dass er dazu neigt, keine unmittelbare Wirkung der Dienstleistungsrichtlinie mit der Folge anzunehmen, dass § 7 HOAI 2013 in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen weiterhin angewendet werden kann. Falls der BGH für die anhängige Revision so entscheidet, könnten sich Aufstockungskläger weiterhin auf die Mindestsätze der HOAI 2013 berufen und einen erhöhten Vergütungsanspruch verlangen.
Für den unterlegenen Beklagten bliebe der vom EuGH angesprochene Staatshaftungsanspruch. Die Voraussetzungen eines solchen Anspruches müssten allerdings in jedem Einzelfall gesondert festgestellt werden. Hierbei kann auch der Zeitpunkt des Vertragsschlusses eine Rolle spielen. Der EuGH hat in seinem Urteil nur auf die Grundsätze seiner Schadensersatzrechtsprechung verwiesen, nicht darüber entschieden.
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