Im Mai hat der EuGH entschieden, dass die gesamte Arbeitszeit von Angestellten erfasst werden muss, nicht nur die Überstunden. Verantwortlich dafür ist der Arbeitgeber. Er muss die nötigen Voraussetzungen für die Zeiterfassung schaffen und zumindest stichprobenartig überprüfen, dass diese auch genutzt werden.
Das Problem liegt in der Bandbreite des Begriffs „Arbeitszeit“. Die Aufgaben, Einsatzzeiten und nicht zuletzt auch das Selbstverständnis der Arbeitnehmer unterscheiden sich grundlegend etwa zwischen Steuerberaterinnen und Kindergärtnern oder zwischen Chirurgen und Architektinnen. Während ein Arbeitnehmer es vielleicht wichtig findet, möglichst pünktlich den Heimweg anzutreten, sieht ein anderer in Überstunden grundsätzlich kein Problem, jedenfalls solange sie sich in einem überschaubaren Umfang bewegen.
Im Kern geht es um die Unterscheidung zwischen einer Bezahlung nach der bei der Arbeit verbrachten Zeit und einer Bezahlung nach den erzielten Arbeitsergebnissen. Eine Bedienung im Biergarten wird am Ende ihrer Schicht nach Hause gehen wollen, auch wenn noch Bestellungen offen stehen und neue Gäste gerade erst ankommen. Dagegen wird eine Chirurgin im Krankenhaus sicherlich nicht das Skalpell weglegen, solange die Operation nicht abgeschlossen ist.
Deshalb wird das Urteil der Lebenssituation und den Wünschen vieler Arbeitnehmer nicht gerecht. Es verhindert oder erschwert zumindest flexible Arbeitsplatz- und Arbeitszeitgestaltungen, wie etwa die Vertrauensarbeit oder die Arbeit im Home Office. Dazu kommt eine datenschutzrechtliche Komponente: Die vorgeschriebene Arbeitszeiterfassung erleichtert die Überwachung des Arbeitnehmers.
Der EuGH nimmt mit seiner Entscheidung nicht die Unternehmen in den Mitgliedsstaaten in die Pflicht, sondern die Staaten selbst. Sie müssen die Vorgaben nun in nationales Recht umsetzen.
Eine unmittelbare Wirkung des Urteils wird zwar diskutiert – dann müssten Arbeitgeber ein entsprechendes System zur Erfassung der Arbeitszeiten unmittelbar einführen –, doch sprechen die besseren Argumente gegen eine solche unmittelbare Wirkung, denn dann hätten die Mitgliedsstaaten keinen Spielraum mehr bei der Umsetzung des Urteils.
Eine Klagewelle gegen deutsche Arbeitgeber ist damit erst einmal nicht zu befürchten. Die deutschen Regelungen zur Arbeitszeiterfassung, insbesondere zur Darlegungs- und Beweislast, haben bis auf Weiteres Bestand. Unternehmen sollten die Entwicklung im Auge behalten – zu schnellen Reaktionen besteht aber vorerst kein Anlass.
Das Urteil wird trotzdem nicht folgenlos bleiben, denn es fordert die Mitgliedsstaaten zum Handeln auf, auch Deutschland. Dabei sollte das Augenmerk darauf liegen, soviel Flexibilität wie möglich zu gewährleisten, im Interesse von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen.
Ansatzpunkte dafür gibt es durchaus: Die EU-Richtlinie 2003/88, die der EuGH seinem Urteil zugrunde gelegt hat, erlaubt zum Beispiel Ausnahmen, wenn die Arbeitszeit aufgrund der besonderen Merkmale der Tätigkeit nicht gemessen und/oder nicht im Voraus festgelegt werden kann. Bei vielen heutigen Berufen dürfte das der Fall sein, wie schon die wenigen Beispiele weiter oben exemplarisch zeigen. Eine weitere Ausnahme erlaubt die Richtlinie, wenn Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit selbst festlegen – sprich, im Fall von Vertrauensarbeitszeit. Auch bei der Definition von Arbeitszeit können sich Spielräume ergeben. Der Aufenthaltsort, also zu Hause oder an der Arbeitsstelle, wird als einziges Kriterium einem modernen Verständnis von Arbeitszeit nicht mehr gerecht.
Die EU-Kommission wird sich sicherlich in absehbarer Zeit mit der Arbeitszeitrichtlinie befassen und diese anpassen – das galt ohnehin schon, doch umso mehr nach der EuGH-Entscheidung. In diesem Rahmen könnte Deutschland so wie jedes Mitgliedsland seinen Einfluss geltend machen und auf eine flexiblere Regelung hinwirken.
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