Das Bundesverfassungsgericht hat am 27. Juni 2018 über insgesamt fünf Verfassungsbeschwerden befunden und entschieden, dass die Durchsuchung bei der von VW im Zusammenhang mit der Dieselthematik beauftragten Kanzlei Jones Day sowie die Beschlagnahme von Unterlagen im Zuge eines gegen die Konzerntochter Audi betriebenen Ermittlungsverfahrens von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden waren. VW hatte Jones Day mit der Durchführung von internen Untersuchungen beauftragt. Audi selbst aber stand in keinem Mandatsverhältnis zu Jones Day. Die Staatsanwaltschaft München darf nun zahlreiche Akten und elektronische Daten, die sich in den Kanzleiräumen befanden, und somit die Ergebnisse der Befragung mehrerer Hundert VW-Mitarbeiter sowie interne E-Mails und Dokumente auswerten und gegen Audi verwenden. Die Entscheidung der Karlsruher Richter hat zunächst unmittelbare Nachteile für Nicht-EU-Kanzleien im Wettbewerb um die Beauftragung mit internen Untersuchungen zur Folge. Die Unternehmen selbst lässt die Entscheidung aber in einem Dilemma zurück: Einerseits müssen sie interne Ermittlungen durchführen, anderseits besteht die Gefahr, dadurch sich selbst, Konzerngesellschaften oder Mitarbeiter zu belasten. Möglicherweise ist hier das – überwiegend kritisch beäugte – Unternehmensstrafrecht die Lösung, wenn die von der Großen Koalition geplanten Beschuldigten-/Verfahrensrechte für Unternehmen eingeführt werden. Interne Untersuchungen bis zum Tätigwerden des Gesetzgebers in der Zwischenzeit gar nicht oder nicht mehr durch externe Rechtsanwälte durchführen zu lassen, ist aber keine Option. Künftig werden vor dem Hintergrund der Entscheidungen bei der Ausgestaltung der individuellen Mandatsbeziehung allerdings viel Fingerspitzengefühl und profunde rechtliche Expertise erforderlich sein, um den Mandanten effektiv zu schützen.
Das Bundesverfassungsgericht wies die Verfassungsbeschwerden der Kanzlei Jones Day mit der Begründung zurück, dass sich Jones Day als eine partnerschaftlich organisierte Rechtsanwaltskanzlei in der US-amerikanischen Rechtsform einer Partnership nicht auf materielle Grundrechte berufen könne. Die Betroffenheit eines ihrer deutschen Kanzleistandorte (hier des Münchener Standorts) von hoheitlichen Eingriffsmaßnahmen führe im vorliegenden Fall nicht dazu, dass ihre Verfassungsbeschwerden wie die einer inländischen juristischen Person zu behandeln seien. Da sich nur drei der über 40 Standorte der weltweit tätigen Kanzlei in Deutschland fänden, die meisten hingegen in den USA, sei auch nicht davon auszugehen, dass ihr Hauptverwaltungssitz in Deutschland oder einem anderen EU-Mitgliedstaat liege. Von einer organisatorisch eigenständigen Stellung des Münchener Jones Day Standorts sei ebenfalls nicht auszugehen (2 BvR 1287/17/; 2 BvR 1583/17). Die Verfassungsbeschwerde der deutschen Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day hat das Bundesverfassungsgericht mit der Begründung zurückgewiesen, dass diese nicht in eigenen Grundrechten betroffen seien (2 BvR 1562/17).
Das bedeutet, dass sich Kanzleien mit einer Struktur wie Jones Day weder unmittelbar noch mittelbar auf die Grundrechte berufen können, um den Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden auf Unterlagen zu verhindern, die im Rahmen von internen Ermittlungen ausgewertet oder erstellt werden. Dies hat zur Folge, dass solche Kanzleien auf dem deutschen Markt einen unmittelbaren Wettbewerbsnachteil gegenüber Kanzleien haben, die nach deutschem Recht oder in einer Rechtsform eines anderen EU-Mitgliedstaats organisiert sind – jedenfalls, solange Nicht-EU-Kanzleien Struktur nicht „grundrechtsberechtigt“ ausgestalten. Die Frage, ob der Verwaltungssitz in die EU verlegt oder eine andere Rechtsform gewählt wird, werden sich vor dem Hintergrund des Brexits möglicherweise auch britische Kanzleien stellen müssen.
Das Bundesverfassungsgericht hat auch die Verfassungsbeschwerden von VW zurückgewiesen. Dabei setzte es sich detailliert mit der Frage auseinander, ob im Verhältnis zwischen VW und Jones Day das Anwaltsprivileg gilt und die Unterlagen, die aus den internen Ermittlungen stammten und sich bei der Kanzlei befanden, demzufolge vom Beschlagnahmeverbot umfasst waren. Das Bundesverfassungsgericht kam zu dem Ergebnis, dass die Auffassung des vorinstanzlichen Gerichts vertretbar sei: Nach Ansicht des Landgericht München I greife das Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO nur im Rahmen des Vertrauensverhältnisses zwischen einem Rechtsanwalt und einem im konkreten Ermittlungsverfahren Beschuldigten – letzteres sei VW jedoch in dem von der Staatsanwaltschaft München geführten Ermittlungsverfahren gegen Audi aber gerade nicht. Eine beschuldigtenähnliche Stellung, die einen Beschlagnahmeschutz nach sich zieht, sei nicht schon dann anzunehmen, wenn ein Unternehmen – wie hier – eine interne Ermittlung in Auftrag gebe. Vielmehr müsse sich die Einleitung eines Verfahrens gegen die juristische Person als Adressatin einer Verbandsgeldbuße oder als Einziehungsbeteiligte objektiv abzeichnen. Dafür sei zwar nicht erforderlich, dass bereits ein Straf- oder Bußgeldverfahren gegen eine Leitungsperson des Unternehmens im Sinne von § 30 Abs. 1 OWiG eingeleitet wurde – es müsse aber ein „hinreichender“ Verdacht für eine durch eine konkrete Leitungsperson begangene Straftat oder Aufsichtspflichtverletzung im Sinne von § 130 OWiG bestehen. Allein die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes einer Leitungsperson reiche nicht (2 BvR 1405/17; 2 BvR 1780/17).
Die skizzierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist kein ermutigendes Signal für alle Unternehmen, die interne Untersuchungen – völlig zu Recht – als wirksame Compliance-Maßnahme begreifen und versetzt Unternehmen zudem in ein Dilemma: Zum einen besteht die aus der gesellschaftsrechtlichen Legalitätspflicht und aus § 130 OWiG folgende Pflicht, Compliance-Vorfälle aufzuklären (d.h. u.a. Beweismittel zu erheben, aufzubereiten und zu sichern). Zum anderen können die Ergebnisse dieser Aufklärung von den Strafverfolgungsbehörden gegen das Unternehmen selbst, Konzerngesellschaften oder Mitarbeiter verwendet werden, solange diese nicht (potentielle) „Beschuldigte“ eines Ermittlungsverfahrens sind und überdies selbst ein Mandatsverhältnis mit der durchsuchten Kanzlei unterhalten. Dies begründet eine bedenkliche Nähe zum Selbstbelastungsverbot.
Die Begründung ist aber vor dem Hintergrund zu würdigen, dass die aktuell geltenden Regelungen des Ordnungswidrigkeitsrechts, die unter gewissen Voraussetzungen die Verhängung von Geldbußen gegen Unternehmen erlauben, ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit beinhalten. Gesetzliche Regelungen zu Verfahrensrechten von Unternehmen – wie beispielsweise im Zusammenhang mit internen Untersuchungen – fehlen vollständig. Die mittlerweile jahrzehntealte Diskussion um die Einführung und Ausgestaltung eines Unternehmensstrafrechts hat in den letzten Jahren erheblich an Fahrt aufgenommen. Dass Handlungsbedarf besteht, haben auch Union und SPD erkannt. Im Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018 hat die große Koalition die Neuregelung des Sanktionsrechts für Unternehmen vereinbart. Im Zuge dessen sollen gesetzliche Vorgaben für interne Ermittlungen geschaffen werden und zwar insbesondere mit Blick auf beschlagnahmte Unterlagen und Durchsuchungsmöglichkeiten. Außerdem sollen gesetzliche Anreize zur Aufklärungshilfe durch interne Untersuchungen und zur anschließenden Offenlegung der hieraus gewonnenen Erkenntnisse gesetzt werden.
Entsprechende Regelungen enthält der derzeit vorliegende „Kölner Entwurf eines Verbandssanktionsgesetzes“ (VerbSG-E). § 18 VerbSG-E sieht unter anderem ein Beschlagnahmeverbot hinsichtlich Aufzeichnungen über interne Untersuchungen vor.
Ob der Gesetzgeber sich insoweit dem Kölner Entwurf anschließt, bleibt abzuwarten. Unternehmen, welche die Diskussion um die Einführung eines Unternehmensstrafrechts bislang eher mit Sorge verfolgt haben, könnten angesichts des Signals aus Karlsruhe ihre Haltung aber noch einmal überdenken. Denn die geplante Regelung von Verfahrensrechten von Unternehmen nicht zuletzt im Zusammenhang mit internen Untersuchungen könnte die Antwort des Gesetzgebers auf die Jones Day-Entscheidung sein.
Sind unternehmensinterne Ermittlungen damit in der Zwischenzeit „tot“? Nein. Compliance-Vorfällen nicht nachzugehen, ist – wie dargelegt – keine Option. Dies mit internen Ressourcen zu unternehmen, ist oftmals in der Praxis nicht durchführbar, schon weil es am nötigen Know-how fehlt. Zudem bietet der Einsatz von Syndikusanwälten im Zweifel sogar deutlich weniger Schutz als der Einsatz externer Rechtsanwälte.
Insoweit bleibt die Beauftragung externer Rechtsanwälte nach wie vor die bestmögliche Option. Dies verlangt aber profunde rechtliche Expertise und Fingerspitzengefühl insbesondere bei der Ausgestaltung der konkreten Mandatsbeziehung gerade bei Konzernen, um dem individuellen Mandanten bei der Vertretung gegenüber Ermittlungsbehörden und Gerichten möglichst weitreichenden Schutz zu gewähren.
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