Mit dem am 24. Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat sich die energie- und sicherheitspolitische Bewertung der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen unvorhergesehen kurzfristig und fundamental geändert. In der Folge ist eine Unterbrechung der bis dato für die nationale Energieversorgung zentralen russischen Erdgaslieferungen an Deutschland (laut der Gesetzesbegründung in der Bundestagdrucksache 20/1742 aktuell 40 Prozent der nationalen Gasversorgung, bei einem Gesamtverbrauch von rund 1.000 TWh oder 96 Mrd. m3 pro Jahr) nicht mehr ausgeschlossen. Hierdurch ist eine unvorhersehbare, außergewöhnliche und äußerst volatile Lage am Gasmarkt entstanden.
Vor diesem Hintergrund ist der unverzügliche und schnellstmögliche Aufbau einer unabhängigeren nationalen Gasversorgung äußerst dringlich und zwingend erforderlich.
Es kann auch schnell gehen – Die Koalitionsfraktionen brachten den Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (LNG-Beschleunigungsgesetz – LNGG) am 10.05.2022 in den Bundestag ein. Nachdem am 19.05.2022 der Bundestag das Gesetz verabschiedete, hat es einen Tag später auch den Bundesrat passiert. Am 01. Juni ist das Gesetz in Kraft getreten.
Um die Möglichkeit für zusätzliche LNG-Importe zu schaffen, bezweckt das neue Gesetz, schnellstmöglich auf Ebene der Infrastruktur die Voraussetzung für den Bezug größerer LNG-Mengen zu ermöglichen.
Dazu heißt es in der Begründung zu § 1 (Zweck):
„Ohne die schnellstmögliche Errichtung der entsprechenden LNG-Infrastruktur ist eine Substituierung des russischen Gases in dem zur Abwendung schwerster wirtschaftlicher Schäden zwingend erforderlichen Umfang auf absehbare Zeit nicht möglich. Bei einer vollständigen Einstellung der Erdgaslieferungen aus Russland reichen insbesondere auch die auf dem Weltmarkt verfügbaren FSRUs nicht aus, um den Ausfall in den kommenden Jahren gänzlich zu kompensieren.
[…]
Dementsprechend wird Auftraggebern ermöglicht, vorübergehend vergaberechtliche Erleichterungen zur Beschleunigung der Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen anzuwenden. Ziel des Gesetzes ist es, […] die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen erheblich schneller zu durchlaufen, als dies nach aktueller Rechtslage möglich ist, […]. Um die schnellstmögliche Umsetzung effektiv zu gewährleisten, ist parallel auch der entsprechende Rechtsschutz jeweils zu beschleunigen. Diese Anpassungen sind ein äußerst wichtiger Beitrag für die Versorgungssicherheit in Deutschland und aufgrund der dadurch entstehenden Unabhängigkeit von Russland auch für die Sicherheit in Europa.“
Die Begründung zu § 3 (Besonderes Interesse) führt entsprechend aus:
„[…] Es bedarf eines Ausbaus der gesamten LNG-Infrastruktur, damit das verflüssigte Gas nach Deutschland geliefert werden kann und in das Fernleitungsnetz eingespeist werden kann. Derzeit steht der Bau von LNG-Terminals an den in der Anlage genannten Standorten in der Diskussion. Für diese Standorte schafft das Gesetz eine gesetzliche Planrechtfertigung und ein beschleunigtes Zulassungs- und Vergabeverfahren. Bei den in der Anlage erfassten Vorhaben handelt sich um Vorhaben von überregionaler Bedeutung. Sie gehen nach Bedeutung und Auswirkung über das Gebiet eines Landes hinaus. Die räumliche Verteilung der erfassten Infrastrukturen dient dazu, die Realisierung im gesamtstaatlichen Interesse zu steuern und so zur Verwirklichung der politischen Ziele der Gewährleistung der Versorgungssicherheit und der Schaffung einer zukunftsoffen diversifizierten Gasversorgung beizutragen. Es besteht zudem eine besondere Dringlichkeit der Realisierung von einzelnen Vorhaben in der Küstenregion, die eine Aufnahme in die Anlage rechtfertigen. Der Ausbau der LNG-Infrastruktur in Deutschland und damit zusammenhängend die Realisierung der Vorhaben sind von grundsätzlicher Bedeutung. Sie bedürfen aus zwingenden Gründen des öffentlichen Interesses einer schnellstmöglichen Umsetzung.“
Schnelligkeit ist somit auch die Kernaussage zu den Vorschriften des Gesetzentwurfes, welche den Umgang mit dem Vergaberecht regeln. In § 9 des Gesetzesentwurfes, welcher die Überschrift „Beschleunigte Vergabe- und Nachprüfungsverfahren“ trägt, finden sich diverse Verfahrenserleichterungen. Zum einen soll die Vergabe öffentlicher Aufträge, die zur Errichtung von LNG-Terminals dienen, beschleunigt werden. Zum anderen wird für diesen Bereich die Position der öffentlichen Auftraggeber, Sektorenauftraggeber und Konzessionsgeber in Rechtsschutzverfahren gestärkt.
Nachfolgend stellen wir die Verfahrenserleichterungen vor und gehen auf die Frage ein, ob mit dem LNGG gar eine Zeitenwende für das Vergaberecht anbricht.
Das neue LNGG gilt in sachlicher Hinsicht nach Maßgabe seiner Absätze 2 und 3 für die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen für die in der Anlage bezeichneten Vorhaben. In der Anlage werden insgesamt 18 vorhaben an sechs Standorten aufgezählt (Brunsbüttel (Schleswig-Holstein), Wilhelmshaven (Niedersachsen), Stade / Bützfleth (Niedersachsen), Hamburg / Moorburg (Hamburg), Rostock / Hafen (Mecklenburg-Vorpommern) und Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern). Die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen ist nicht wie die Zulassung gewisser Anlagetypen an den Katalog nach § 2 Abs. 1 LNGG gekoppelt. Die Neuregelungen adressieren folglich nach § 2 Abs. 3 LNGG öffentliche Auftraggeber und Konzessionsgeber. Der persönliche Anwendungsbereich erstreckt sich für die Regelungen nach § 9 LNGG zudem auf Sektorenauftraggeber.
Das LNGG enthält ausdifferenzierte Regelungen zu seinem zeitlichen Anwendungsbereich: Gemäß § 15 LNGG tritt das LNGG am Tag nach der Verkündung, in Kraft. Die Regelungen nach § 9 Absatz 1 und 4 LNGG treten mit dem Ablauf des 30. Juni 2025 außer Kraft. Für Verfahrensschritte, bei denen von einer Regelung nach den §§ 3 bis 10 LNGG Gebrauch gemacht worden ist und die mit Ablauf des 31. Juni 2025 noch nicht abgeschlossen sind, gelten die Bestimmungen dieses Gesetzes nach § 14 Abs. 3 LNGG bis zum Abschluss des jeweiligen Verfahrensschrittes weiter. Ebenso sind auch auf vor dem Inkrafttreten des LNGG begonnene, aber noch nicht abgeschlossene Vergabe- und Nachprüfungsverfahren die Regelungen des § 9 LNGG anzuwenden, die die Vergabe öffentlicher Aufträge und Konzessionen für Vorhaben nach § 2 zum Gegenstand haben; für § 9 Absatz 1 Nummer 1, 2, 7, 8 und 9 sowie Absatz 4 gilt dies nur, sofern das Vergabeverfahren nach dem 24. Februar 2022 begonnen hat.
Nach § 9 Abs. 1 Nr. 1 LNGG findet § 97 Abs. 4 GWB keine Anwendung. Der Grundsatz der losweisen Vergabe gemäß § 97 Abs. 4 GWB, nach dem nur unter bestimmten Voraussetzungen von einer Vergabe in Teil- und Fachlosen abgesehen werden konnte, wird damit für den Anwendungsbereich des LNGG aufgehoben.
§ 9 Abs. 1 Nr. 2 LNGG präzisiert dazu allerdings, dass „mittelständische Interessen auch bei der Vergabe öffentlicher Bauaufträge nicht vornehmlich berücksichtigt werden müssen“ und „Leistungen nicht in der Menge aufgeteilt und getrennt nach Art oder Fachgebiet vergeben werden müssen“. Eine Vergabe in Losen wird damit durch das LNGG also nicht verboten. Das LNGG schafft lediglich Entscheidungserleichterungen für Auftraggeber in Bezug auf die Frage des projektbezogenen Loszuschnitts, indem die Frage der Zulässigkeit einer gebündelten Beschaffung (gleich ob in „Paketen“ oder in einer „Gesamtbündelung, etwa Generalplaner- oder Generalunternehmervergaben“) nicht mehr ohne Weiteres Gegenstand streitiger vergaberechtlicher Auseinandersetzungen sein kann.
Das LNGG nimmt Auftraggebern damit aber keineswegs die Verantwortung, im Einzelfall projektbezogen jeweils sachgerechte Entscheidungen über den konkreten Loszuschnitt bei der Vergabe zu treffen. Diese Eigenverantwortung des Auftraggebers stellte bereits Erwägungsgrund 78 Unterabs. 2 der Richtlinie 2014/24/EU in den Mittelpunkt. Danach sollte der Auftraggeber zur Prüfung der Frage verpflichtet sein, ob die Aufteilung von Aufträgen in Lose sinnvoll ist, wobei es ihm freistehen soll, darüber selbständig zu entscheiden und seine Entscheidung nach eigenem Ermessen zu begründen, ohne dass er einer administrativen oder gerichtlichen Kontrolle untersteht.
Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Marktentwicklungen (z. B. verfügbare Kapazitäten und Preissteigerungen) werden Auftraggeber weiterhin sensibel projektbezogen über einen Loszuschnitt entscheiden müssen, der auch tatsächlich Aussicht auf Erfolg am Markt und in der Projektrealisierung hat.
§ 9 Abs. 1 Nr. 3 lit. a) LNGG erweitert das Entfallen der Informations- und Wartepflichten gemäß § 134 GWB auf alle Fälle, in denen das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb gerechtfertigt ist – und damit nicht mehr nur auf die Fälle eines Verhandlungsverfahrens ohne Teilnahmewettbewerbs wegen besonderer Dringlichkeit. § 9 Abs. 1 Nr. 3 lit. b) LNGG stellt praxisnah klarstellend fest, dass die Informations- und Wartepflicht auch in Fällen entfällt, in denen der Bieter, dem der Zuschlag erteilt wird, der einzige Bieter ist und es keine weiteren Bewerber gibt.
§ 9 Abs. 1 Nr. 7 bis 9 LNGG soll Verfahrensbeschleunigungen ermöglichen und Begründungserleichterungen für Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit schaffen. Die nachfolgenden Modifizierungen erstrecken sich auf die entsprechenden Vorschriften der Sektorenverordnung (SektVO), der Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit (VSVgV) und der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil A (VOB/A).
Damit werden zwar keine neuen vergaberechtlichen Instrumente, aber gesetzliche Grundlagen für die Anwendung und Begründung von bereits existierenden vergaberechtlichen Ausnahmetatbeständen geschaffen. Der Gesetzesentwurf stützt dies in seiner Gesetzesbegründung ausdrücklich auf die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und die kurzfristigen Beschaffungsbedarfe im Sinne von § 2 LNGG, die für die jeweiligen Beschaffungsstellen insgesamt und im Einzelnen unvorhersehbar waren. Der Krieg habe in ihrem Volumen und ihrer Art auch weiterhin unvorhersehbare Folgen ausgelöst, auf die Deutschland äußerst dringlich reagieren müsse, um der Gefährdung überragender öffentlicher Interessen zu begegnen.
Unter Berücksichtigung dessen bestimmt § 9 Abs. 1 Nr. 7 LNGG, dass mit Blick auf die vergaberechtliche Grundlage für das Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit gemäß § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV, für die vom LNGG erfassten Fälle
Danach soll für die vom LNGG erfassten Fälle ein Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit nach § 14 Abs. 4 Nr. 3 VgV zulässig sein.
Nach denselben Erwägungen des Gesetzgebers soll nach § 9 Abs. 1 Nr. 8 LNGG für die vom LNGG erfassten Fälle eine hinreichend begründete Dringlichkeit im Sinne von § 17 Abs. 8 VgV gegeben sein, sodass die Frist für Angebote im Verhandlungsverfahren auf bis zu 10 Kalendertage verkürzt werden kann. Das LNGG erstreckt seine gesetzliche Feststellung einer „hinreichend begründeten Dringlichkeit“ in diesem Sinne auch auf die entsprechenden Vorschriften zum offenen und nicht offenen Verfahren nach der VgV sowie auch hier entsprechend auf die jeweiligen Vorschriften der SektVO, VSVgV und VOB/A.
Mit § 9 Abs. 1 Nr. 9 LNGG kann abweichend von § 51 Abs. 2 Satz 1 VgV bei Vergabeverfahren, die aufgrund von § 9 Abs. 1 Nr. 7 LNGG als Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb wegen besonderer Dringlichkeit durchgeführt werden, auch nur ein Unternehmen zur Angebotsabgabe aufgefordert werden. Dies allerdings nur unter der weiteren Voraussetzung, dass dieses Unternehmen als einziges in der Lage ist, den Auftrag innerhalb der durch die äußerste Dringlichkeit bedingten technischen und zeitlichen Zwänge zu erfüllen. Die Prüfung dieser letztgenannten Voraussetzung obliegt weiterhin allein dem Auftraggeber anhand des konkreten Einzelfalls.
Der Gesetzesentwurf sieht des Weiteren erhebliche Modifizierungen der vergaberechtlichen Primärrechtsschutzverfahren, namentlich des gesetzlichen GWB-Nachprüfungs- und -sofortigen-Beschwerdeverfahrens vor. Beachtlich sind insoweit insbesondere folgende vorgesehene Regelungen:
Nach bislang geltendem GWB-Kartellvergaberecht gilt Folgendes: Wird ein EU-weit auszuschreibender Auftrag unter Verstoß gegen die Informations- und Wartepflicht gemäß § 134 GWB und / oder ohne eine erforderliche vorherige EU-weite Bekanntmachung vergeben, so können übergangene Unternehmen die Unwirksamkeit eines dennoch geschlossenen Vertrages nach § 135 Abs. 1 GWB im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens durch die zuständige Nachprüfungsinstanz (Vergabekammer und Beschwerdegericht) feststellen lassen. Wird im Rahmen des Nachprüfungsverfahrens ein entsprechender Verstoß durch die zuständige Nachprüfungsinstanz festgestellt, hat dies nach § 135 Abs. 1 GWB zur Konsequenz, dass der streitgegenständliche Vertrag von Anfang an unwirksam ist. Andere Rechtsfolgen kannte das Gesetz bislang nicht.
§ 9 Abs. 1 Nr. 4 LNGG sieht für die vom LNGG erfassten Fälle nunmehr vor, dass „auf Antrag des Auftraggebers oder von Amts wegen“ die zuständigen Nachprüfungsinstanzen die Unwirksamkeit eines Vertrages nicht feststellen können, wenn nach Prüfung aller maßgeblichen Gesichtspunkte unter Berücksichtigung des Zweckes im Sinne des § 1 LNGG und des besonderen Interesses nach § 3 LNGG „zwingende Gründe eines Allgemeininteresses“ es rechtfertigen, die Wirkung des Vertrages zu erhalten. Das besondere Interesse in diesem Sinne rechtfertigt es dabei „in der Regel“, die Wirkung des Vertrages zu erhalten.
Gelangt die zuständige Nachprüfungsinstanz nach den vorstehenden Maßgaben dennoch zu einer Unwirksamkeitsfeststellung, so ist die Wirkung der Unwirksamkeit des streitgegenständlichen Vertrages nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 LNGG – abweichend von § 135 Abs. 1 GWB – auf Verpflichtungen beschränkt, die noch zu erfüllen sind. Die Unwirksamkeit wird also nur für die Zukunft festgestellt, nicht aber rückwirkend.
Gestützt wird EU-rechtliche Zulässigkeit des Zurückbleibens hinter der Rechtsfolge der Unwirksamkeit vom Zeitpunkt des Vertragsschlusses an auf Art. 2d Abs. 3 UAbs. 1 der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG (sowie der Parallelvorschriften aus der Sektoren-Rechtsmittelrichtlinie 92/13/EWG und der Verteidigungs- und Sicherheitsvergaberichtlinie). Nach 2d Abs. 3 UAbs. 1 der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG können die Mitgliedsstaaten „vorsehen, dass die von dem öffentlichen Auftraggeber unabhängige Nachprüfungsstelle einen Vertrag nicht als unwirksam erachten kann, selbst wenn der Auftrag […] rechtswidrig vergeben wurde, wenn die Nachprüfungsstelle nach Prüfung aller einschlägigen Aspekte zu dem Schluss kommt, dass zwingende Gründe eines Allgemeininteresses es rechtfertigen, die Wirkung des Vertrags zu erhalten. In diesem Fall sehen die Mitgliedstaaten alternative Sanktionen im Sinne des Artikels 2e Absatz 2 vor, die stattdessen angewandt werden“. Nach Art. 2e Abs. 2 der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG müssen alternative Sanktionen „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ sein.
In Fällen des § 9 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 LNGG, d.h. wenn die zuständige Nachprüfungsinstanz die Unwirksamkeit des Vertrages allein aus den dort genannten Gründen nicht feststellen darf, hat die zuständige Nachprüfungsinstanz dennoch alternative Sanktionen zur Feststellung der Unwirksamkeit nach Maßgabe von § 9 Abs. 1 Nr. 6 LNGG zu erlassen.
Die Verpflichtung der zuständigen Nachprüfungsinstanz zum Erlass solcher alternativer Sanktionen besteht auch dann, wenn eine Unwirksamkeitsfeststellung im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 5 Satz 1 LNGG erfolgt, d.h. die dort nur noch vorgesehene Unwirksamkeitsfeststellung für die Zukunft. Die alternativen Sanktionen sind dann „zusätzlich“ durch die zuständige Nachprüfungsinstanz zu erlassen.
Als solche alternativen Sanktionen kommen nach § 9 Abs. 1 Nr. 6 LNGG Geldsanktionen gegen den Auftraggeber oder die Verkürzung der Laufzeit des Vertrages in Betracht. Geldsanktionen dürfen dabei höchstens 15 % des Auftragswertes betragen.
Das LNGG lässt – bei allen seinen Eingriffen in die Regelungen des vergaberechtlichen Primärrechtsschutzes – den sogenannten Sekundärrechtsschutz vor den ordentlichen Gerichten unberührt. Dies bedeutet, dass übergangene Unternehmen bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen auch in den vom LNGG erfassten Fällen weiterhin Schadensersatzansprüche gegen Auftraggeber geltend machen können.
Mit der Zustellung eines Nachprüfungsantrages geht – nach bislang geltendem GWB-Kartellvergaberecht – gemäß § 169 Abs. 1 GWB ein Zuschlagsverbot einher (sogenannter Suspensiveffekt). Das Zuschlagsverbot gilt zunächst bis zur Entscheidung der Vergabekammer und dem Ablauf der Beschwerdefrist. Wird gegen die Entscheidung der Vergabekammer sofortige Beschwerde eingelegt, wirkt das Zuschlagsverbot zunächst bis zwei Wochen nach Ablauf der Beschwerdefrist fort. Auf Antrag kann das Zuschlagsverbot bis zur Entscheidung über die Beschwerde verlängert werden. In der Praxis machen die Beschwerdegerichte von einer zumindest „einstweiligen“ bzw. „vorläufigen“ Verlängerung dieses Zuschlagsverbot sehr umfassend Gebrauch.
Für laufende Vergabeverfahren bedeutet dieses Zuschlagsverbot stets, dass es nicht durch Zuschlagserteilung beendet werden darf, verbunden mit teilweise ganz erheblichen Verzögerungen von Projekten. Die Nachprüfungspraxis zeigt, dass das schon im GWB angelegte gesetzliche Instrument des Antrags eines Auftraggebers auf vorzeitige Gestattung der Zuschlagserteilung hier regelmäßig kaum Aussicht auf Erfolg für Auftraggeber hat.
§9 Abs. 2 Nr. 4 und § 9 Abs. 3 Nr. 4 LNGG knüpft an dieser praktischen Herausforderung an und regelt, dass für die vom LNGG erfassten Fälle das Interesse an einer vorzeitigen Gestattung der Zuschlagserteilung „in der Regel“ überwiegt. Die EU-rechtliche Zulässigkeit der vorgesehenen Vereinfachungen einer vorzeitigen Zuschlagsgestattung dürfte insbesondere an Art. 2 Abs. 5 der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG zu messen sein. Nach der Regelung können Mitgliedsstaaten vorsehen, dass die Nachprüfungsstelle „die voraussehbaren Folgen der vorläufigen Maßnahmen im Hinblick auf alle möglicherweise geschädigten Interessen sowie das Interesse der Allgemeinheit berücksichtigen kann und dass sie beschließen kann, diese Maßnahmen nicht zu ergreifen, wenn deren nachteilige Folgen die damit verbundenen Vorteile überwiegen könnten“.
Das LNGG sieht zudem deutlich strengere Regelungen für Entscheidungsfristen durch die zuständigen Nachprüfungsinstanzen vor, innerhalb derer diese über die jeweiligen Anträge zu entscheiden haben.
Häufig wird dazu aufgerufen, dass das Vergaberecht reformiert werden müsse. Dabei verfügt bereits das bestehende Vergaberecht über diverse Instrumente, um Vergabeverfahren tatsächlich und in der Praxis schneller und effektiver zu gestalten – es fehlt nur leider immer noch sehr häufig an der richtigen Anwendung.
Bundeskanzler Olaf Scholz prägte den Begriff der „Zeitenwende“ neu. Es bleibt mit Spannung zu erwarten, ob die Inhalte oder Erwägungen des LNGG auch in anderen Bereichen der öffentlichen Beschaffung Einzug halten oder zumindest eine Zeitenwende in der Anwendung des bereits heute geltenden Vergaberechts – sowohl durch Auftraggeber als auch durch die Nachprüfungsinstanzen – anbricht.
Die Rundschreiben und Erlasse diverser Bundes- und Landesministerien anlässlich der Krisensituationen zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie, die Rundschreiben und Erlasse zu den Hochwasserkatastrophen, etwa im Westen und Süden Deutschlands, sowie im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigen wie relevant oder gar notwendig offenbar Hinweise zur richtigen Anwendung des Vergaberechts und der darin angelegten Beschaffungsinstrumente sind, aber auch wie flexibel bereits das geltende Vergaberecht sein kann.
Unsere Experten beraten sie gern zu den Möglichkeiten, Vergabeverfahren zu beschleunigen und effizienter zu gestalten.
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