Die EU möchte klimaneutral werden. Allein über rechtliche Vorgaben gelingt das nicht. Sie ist auf die Mithilfe der Wirtschaft angewiesen. Wenn Unternehmen sich zur gemeinsamen Erreichung von Nachhaltigkeitszielen absprechen, greift jedoch das Kartellverbot. Es gibt aber Orientierung, weniger von der EU als vielmehr von einzelnen Mitgliedstaaten.
Mit dem European Green Deal von 2019 sollen Netto-Treibhausgasemissionen in der EU bis 2050 auf null reduziert werden. Ergänzend zu den rechtlichen Vorgaben werden Initiativen der Wirtschaft notwendig sein. Es ist denkbar, dass Unternehmen das Thema im Alleingang vorantreiben. Einfacher und effektiver ist es jedoch, dies in Kooperation oder zumindest im Austausch mit anderen Unternehmen zu. Allerdings: Möchten Unternehmen gemeinsam Nachhaltigkeitsziele verwirklichen, gilt das Kartellverbot.
Die EU-Kommission hat 2023 ein Kapitel zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen in ihre neuen Horizontal-Leitlinien aufgenommen. Sie stellt zwar klar, dass Vereinbarungen zu gemeinsamen Nachhaltigkeitszielen zwischen Wettbewerbern dem Kartellverbot nicht entgegenstehen müssen, eine Tatbestandsausnahme formuliert die EU-Kommission in den neuen Horizontal-Leitlinien allerdings nicht. Vielmehr erklärt sie, dass sie auch Nachhaltigkeitsvereinbarungen wie jede andere Kooperation zwischen Wettbewerbern, und damit auch solche ohne jeden Nachhaltigkeitsbezug, anhand des normalen, allgemeinen Prüfungsschemas prüfen wird.
Eröffnet werden lediglich Orientierungshilfen. Unter anderem definiert die EU-Kommission darin, welche Nachhaltigkeitsziele sie anerkennt. Auch nennt sie Beispiele für Nachhaltigkeitsvereinbarungen, die kartellrechtlich wahrscheinlich unbedenklich sind. Anerkannt sein sollten beispielsweise Vereinbarungen, die die Einhaltung von Vorgaben sichern sollen, die sich aus internationalen Verträgen, Vereinbarungen oder Übereinkommen ergeben und die auch die beteiligten Unternehmen, ihre Lieferanten und/oder Händler verpflichten. Erlaubt sind damit auch Kooperationen, die gemeinsame Nachhaltigkeitsstandards etablieren, sogenannte Nachhaltigkeitsnormenvereinbarungen. Die von der Kommission hierfür aufgestellten Anforderungen sind allerdings hoch.
Ob die Ziele des Green Deals auf diese Weise erreicht werden können, ist zweifelhaft. Kooperationsformen zu Normenvereinbarungen im Bereich Nachhaltigkeit könnten viel mehr bewirken.
Austausch und Kooperationen zur Nachhaltigkeit außerhalb einer Nachhaltigkeitsnormenverereinbarung, und damit letztendlich jeglicher übriger Austausch, fallen grundsätzlich unter Art. 101 AEUV und sind im Zweifel nur dann nicht kartellrechtswidrig, wenn die Wettbewerbsbeschränkung nicht nach Art. 101 Abs. 3 AEUV gerechtfertigt ist. Für eine Rechtfertigung erforderlich ist die Unerlässlichkeit der Kooperation, das heißt allein darf es nicht, jedenfalls nicht gleich gut gehen, sie muss zu Effizienzen führen und die Verbraucher:innen müssen eine „angemessene Beteiligung“ erfahren.
Die besondere Herausforderung bei Nachhaltigkeitsvereinbarungen: Effizienzen müssen substantiierbar, nachprüfbar, objektiv und konkret sein. Umweltvorteile müssen erläutert und deren Ausmaß geschätzt werden. Das kann in der Praxis sehr aufwändig sein. Und noch schwieriger: der Nachweis über die „angemessene Beteiligung der Verbraucher“. Dieses Merkmal ist üblich und nachvollziehbar für die klassischen, rein kommerziell orientierten Kooperationen, etwa zum Einkauf, der Produktion oder dem Vertrieb. Von Nachhaltigkeitsvereinbarungen hingegen profitieren oft eine zwar bestimmbare, aber weit gefasstere Gruppe, ebenso künftige Generationen, also gar nicht unmittelbar und tagesaktuell die Verbraucher:innen. Daher passt dieses Kriterium schlecht. Dennoch hält die Kommission daran fest.
Österreich hat bereits 2021 das Kartellgesetz um eine „Nachhaltigkeitsausnahme“ erweitert. Danach wird eine angemessene Beteiligung der Verbraucher:innen vermutet, wenn der angestrebte Vorteil zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft wesentlich beiträgt. Durch diese Fiktion können kollektive ökologische Vorteile berücksichtigt werden.
Auch in den Niederlanden gibt es entsprechende Bestrebungen: Nach dem Entwurf zur Überarbeitung greift das Kartellverbot schon nicht, wenn die zu erzielenden Vorteile objektiver Art sind. Sie müssen nicht den Verbraucher:innen, sondern können eben auch der gesamten Gesellschaft und zukünftigen Generationen zugutekommen.
Abzuwarten bleibt, wie die Kommission Fälle behandeln wird, die diesen nationalen Regelungen entsprechen, aber gegen EU-Recht verstoßen. Dass sie Bußgelder verhängen wird, ist schwer vorstellbar. Wahrscheinlich ist auch, dass die europäischen Gerichte in einem solchen Fall dem Green Deal Vorrang vor dem Kartellrecht einräumen würden.
Das deutsche Bundeskartellamt hat bisher keine Leitlinien herausgegeben und auch keine entsprechenden Absichten geäußert. Aktuelle Entscheidungen deuten jedoch darauf hin, dass sich auch das Bundeskartellamt Nachhaltigkeitsaspekten öffnet. In den Fällen „Initiative Tierwohl“ und „Branchenvereinbarung Milch“ zum Beispiel duldete es die Vorhaben erst einmal vorübergehend und gab somit der Nachhaltigkeit den Vorrang. Diese Entscheidungen sind zwar nicht bindend. Sie zeigen aber die Bereitschaft zum Dialog.
Die EU-Kommission hat zwar Nachhaltigkeitsvereinbarung in die Leitlinien aufgenommen. Eine Tatbestandsausnahme hierfür formuliert sie aber nicht. Einzelne Mitgliedstaaten gehen bereits weiter und erkennen Vereinbarungen zum Zweck von Klima- und Umweltschutz als Ausnahme vom Kartellverbot an. Das deutsche Kartellamt hat noch keine Bestrebungen in diese Richtung gezeigt. Aktuelle Entscheidungen deuten aber darauf hin, dass auch die deutsche Kartellbehörde eine Notwendigkeit sieht, Nachhaltigkeit als kollektiven Vorteile für künftige Generationen zu berücksichtigen. Der Handlungsspielraum bei Kooperationen und Austausch zu Nachhaltigkeitsthemen ist also möglicherweise größer als es die offizielle Haltung von EU-Kommission und Bundeskartellamt vermuten lassen.
Es empfiehlt sich, im Bereich Nachhaltigkeitskooperation (deutlich) mehr zu wagen, als es die Horizontal-Leitlinien auf den ersten Blick nahelegen, und vor allem den Austausch mit den Behörden zu suchen. Wo ein klares, nachvollziehbares Nachhaltigkeitsziel im Raum steht, wird der Austausch und die Kooperation nicht am Kartellrecht scheitern.
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