Mangelhafte Produkte, Datenschutzverletzungen oder Verstöße gegen das Kartellrecht führen in manchen Fällen zu Massenklagen. Die vielen Verfahren fordern die Gerichte, die über jede Klage einzeln entscheiden müssen. Für Verbraucherinnen und Verbraucher ist eine Klage oft ein finanzielles Risiko. Dieses Risiko hatte der Gesetzgeber bereits mit der Musterfeststellungsklage verringert. Verbraucherverbände können die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbraucherinnen und Verbrauchern und einem Unternehmer geltend machen. Dennoch müssen einzelne Betroffene ihren Schadensersatz im Anschluss individuell einklagen. Das ändert sich nun mit der Verbandsklage.
Am 7. Juli 2023 hat der Bundestag das Gesetz zur Umsetzung der EU-Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher (Verbandsklagenrichtlinienumsetzungsgesetz – VRUG) beschlossen. Kernstück des Gesetzes ist ein neues Verbraucherrechtedurchsetzungsgesetz (VDuG), das am 12. Oktober 2023 verkündet wurde und am 13. Oktober 2023 in Kraft getreten ist.
Mit der neu eingeführten Abhilfeklage können qualifizierte Verbraucherverbände und Verbraucherzentralen gleichartige Leistungsansprüche von Verbraucherinnen und Verbrauchern gegen ein Unternehmen unmittelbar gerichtlich einklagen. Die Abhilfeklage soll Justiz, Wirtschaft und Verbraucher entlasten und Prozesskosten in Millionenhöhe vermeiden.
Das sind die Eckpunkte der neuen Klageform:
Klageberechtigt sind gemäß § 2 VDuG die Stellen, die von den Mitgliedstaaten benannt worden sind. Hierzu gehören die Verbraucherverbände, die in der Liste gemäß § 4 Unterlassungsklagengesetz eingetragen sind und nicht mehr als 5 % ihrer finanziellen Mittel durch Zuwendungen von Unternehmen beziehen. Darüber hinaus sind qualifizierte Einrichtungen klageberechtigt, die im Verzeichnis der Europäischen Kommission nach Art. 5 Abs. 1, S. 4 der EU-Richtlinie über Verbandsklagen eingetragen sind.
Nicht nur Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern können gelten gemacht werden, sondern auch die von kleinen Unternehmen. Das sind solche, die weniger als zehn Personen beschäftigen und deren Jahresumsatz oder Jahresbilanz zwei Millionen Euro nicht übersteigt.
Die klageberechtigte Stelle muss gemäß § 4 VDuG glaubhaft machen, dass von der Abhilfeklage Ansprüche von mindestens 50 Verbraucherinnen und Verbrauchern betroffen sind oder von den Feststellungszielen die Ansprüche oder Rechtsverhältnisse von mindestens 50 Verbraucherinnen und Verbrauchern abhängen. Denn Gegenstand der Verbandsklage sind die Interessen der betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher, die sich an der Verbandsklage aktiv beteiligen (Opt-In-Verfahren). Noch bis zu zwei Monate nach dem ersten Termin des gerichtlichen Verfahrens können sich Verbraucherinnen und Verbraucher der Verbandsklage anschließen.
Zuständig für die Verbandsklage ist gemäß § 3 VDuG das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk sich der allgemeine Gerichtsstand des beklagten Unternehmens befindet.
Zulässig ist die Verbandsklage gemäß § 15 VDuG nur dann, wenn die Ansprüche gleichartig sind. Dies setzt voraus, dass die Ansprüche erstens auf demselben Sachverhalt oder auf einer Reihe vergleichbarer Sachverhalte beruhen und zweitens für sie die gleichen Tatsachen- und Rechtsfragen entscheidungserheblich sind. Die Frage, ob Ansprüche als gleichartig bewertet werden können, wird bereits jetzt diskutiert. Die Gesetzesbegründung spricht von der Gleichartigkeit der Verbraucheransprüche in tatsächlicher Hinsicht. Beispiele hierfür sind die Annullierung eines konkreten Fluges oder der Abschluss von Verträgen mit gleichen Allgemeinen Geschäftsbedingungen.
Weichen die Lebenssachverhalte demgegenüber erheblich voneinander ab, sind die Ansprüche nicht gleichartig. Das ist etwa dann der Fall, wenn nicht alle Produkte einer Serie mangelhaft sind und jeweils im Einzelfall geklärt werden muss, ob das konkret erworbene Produkt tatsächlich mangelhaft ist oder nicht. Das Gleiche gilt, wenn es darauf ankommt, ob die Verbraucherin oder der Verbraucher von einem bestimmten Umstand bei Vertragsschluss Kenntnis hatte. Gleichartig sind Ansprüche auch dann nicht, wenn für die Entscheidung unterschiedliche Rechtsfragen zu klären sind, zum Beispiel ob Ansprüche verjährt sind oder nicht.
Das gerichtliche Verfahren ist in drei Phasen unterteilt:
In der ersten Phase kann der klageberechtigte Verband ein Abhilfegrundurteil erwirken, das die Haftung des verklagten Unternehmens dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und konkrete Parameter für die Berechnung der Verbraucheransprüche festlegt.
In der zweiten Phase, der sogenannten Vergleichsphase, sollen die Parteien eine gütliche Einigung über die Abwicklung des Rechtsstreits anstreben.
Schließen die Parteien keinen Vergleich, folgt die dritte Phase, die mit einem Abhilfeendurteil des Gerichts endet. Mit der Umsetzung des Abhilfeendurteils wird eine Sachwalterin oder ein Sachwalter beauftragt. Wird der Abhilfeklage stattgegeben, erhalten die von der Klage betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher den ihnen zustehenden Geldbetrag direkt von der Sachwalterin oder dem Sachwalter ausgezahlt. Der Erhebung einer zusätzlichen Individualklage bedarf es dann grundsätzlich nicht mehr.
Der mit der Umsetzung des Abhilfeurteils beauftragte Sachwalter oder die beauftragte Sachwalterin errichtet einen Umsetzungsfonds, in den das verurteilte Unternehmen den vom Gericht festgesetzten Betrag einzahlen muss. Die Sachwalterin oder der Sachwalter prüft die individuelle Anspruchsberechtigung der betroffenen Verbraucherinnen und Verbraucher und ist berechtigt, hierüber Nachweise und Erklärungen zu verlangen. Berechtigte Verbraucheransprüche werden von ihm beziehungsweise ihr befriedigt. Stellt die Sachwalterin oder der Sachwalter fest, dass der vom Gericht ausgeurteilte Betrag für die Befriedigung der berechtigten Ansprüche nicht ausreicht, kann das Gericht auf Antrag den Kollektivgesamtbetrag nachträglich angemessen erhöhen.
Gegen die Entscheidung der Sachwalterin oder des Sachwalters können betroffene Verbraucherinnen und Verbraucher binnen vier Wochen Widerspruch einlegen. Der Widerspruch ist in Textform an die Sachwalterin oder den Sachwalter zu richten und zu begründen. Die Widerspruchsentscheidung ist gerichtlich nicht überprüfbar. Sofern er die Ansprüche von Verbrauchern ablehnt, bleibt diesen aber die Möglichkeit der Erhebung einer Individualklage gegen das Unternehmen.
Das Umsetzungsverfahren endet mit einer Schlussrechnung oder einem Schlussbericht, der vom Gericht überprüft wird. Etwaige gerichtliche Beanstandungen müssen behoben werden. Erst dann stellt das Gericht die Beendigung des Umsetzungsverfahrens fest.
Die Verbandsklage kann auch mit einem Vergleich enden, der Wirkung für die im Verbandsklageregister angemeldeten Verbraucher hat. Ein Vergleich bedarf gemäß § 9 VDuG der Genehmigung des Gerichts. Verbraucherinnen und Verbraucher können allerdings innerhalb einer Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des Vergleichs im Verbandsklageregister ihren Austritt aus dem Vergleich erklären.
Die Regelung zur Hemmung der Verjährung bei Abhilfe- und Musterfeststellungsklagen entspricht der bisherigen Regelung für Musterfeststellungsklagen. Die Verbandsklage hat verjährungshemmende Wirkung, aber nur für die Personen, die ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse wirksam zum Verbandsklageregister angemeldet haben. Die Verjährung wird dabei immer für den gesamten Anspruch gehemmt, unabhängig davon, ob die Ansprüche durch die Abhilfeklage in vollem Umfang oder nur teilweise geltend gemacht werden.
Gegenüber Massenklagen ist die Verbandsklage für die beklagten Unternehmen deutlich effizienter und kann Kosten ersparen. Gleichzeitig sinkt aber auch die Hürde für einzelne Verbraucherinnen und Verbraucher, ihre Ansprüche geltend zu machen. Inwieweit Verbraucherverbände von der neuen Klageform Gebrauch machen werden und ob damit tatsächlich Massenverfahren vermieden werden können, wird sich zeigen.
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