Am 7. November 2023 ist die 11. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB), das sogenannte Wettbewerbsdurchsetzungsgesetz, in Kraft getreten. Die Gesetzesreform ist eine Zeitenwende im Kartellrecht: Auch gegen rechtstreue Unternehmen kann mit gravierenden kartellrechtlichen Maßnahmen vorgegangen werden. So verleiht der neu eingeführte § 32f GWB dem Bundeskartellamt als zentrales Eingriffsinstrument im Anschluss an eine Sektoruntersuchung neue und weitreichende Kompetenzen, um festgestellte Wettbewerbsstörungen abstellen zu können. Hierzu gehört als „ultima ratio“ sogar die Möglichkeit einer Entflechtungsanordnung, also die Zerschlagung eines Unternehmens.
Bisher dienten Sektoruntersuchungen dem Bundeskartellamt primär dazu, vertiefte Kenntnis über Märkte zu gewinnen und mündeten in Abschlussberichten. Diese Erkenntnisse konnte es zwar in Verfahren verwenden. Maßnahmen konnte das Amt aber bisher nur ergreifen, sofern Unternehmen gegen spezifische gesetzliche Ge- oder Verbote verstießen. So führten die Sektoruntersuchungen „Walzasphalt“ und „Zement“ sowie „Transportbeton“ im Anschluss zu umfangreichen Entflechtungen von Gemeinschaftsunternehmen, die allerdings mit Verstößen gegen das Kartellverbot (§ 1 GWB) begründet wurden.
Neben neuen Abhilfemaßnahmen nach Sektoruntersuchungen spricht die 11. GWB-Novelle dem Bundeskartellamt erweiterte Kompetenzen zur Fusionskontrolle und zur Vorteilsabschöpfung zu. Ferner erlangt das Bundeskartellamt eigenständige Ermittlungsbefugnisse zur Durchsetzung des Digital Markets Act (DMA).
Mit § 32f GWB wird dem Bundeskartellamt nun die Eingriffsbefugnis an die Hand gegeben, direkt Konsequenzen zu ziehen und regulatorisch einzugreifen, wenn eine Sektoruntersuchung ergibt, dass eine Störung des Wettbewerbs besteht. Der Paradigmenwechsel besteht dahingehend, dass ein Eingriff nach § 32f GWB nicht von einem Nachweis konkreter Kartellrechtsverstöße abhängig ist. Damit kann auch gegen an sich rechtstreue Unternehmen vorgegangen werden, soweit aus Sicht des Amtes eine „erhebliche, andauernde oder wiederholte Störung des Wettbewerbs auf mindestens einem Markt oder marktübergreifend“ vorliegt. Zur Konkretisierung nennt § 32f GWB regelbeispielhafte, nicht abschließende Faktoren, die sich teilweise an den Kriterien von § 18 Abs. 3 GWB orientieren, zusätzlich aber insbesondere wettbewerbsbeeinträchtigende Marktergebnisse und Verhaltensweisen in die Gesamtschau einschließen.
Während sowohl im deutschen wie auch im europäischen Kartellrecht bislang der Grundsatz galt, dass rechtstreue Unternehmen keine Sanktionen zu fürchten haben, führt die 11. GWB-Novelle zu einer Abkehr von diesem bewährten Prinzip. Als Vorbild diente der Bundesregierung Großbritannien. Zur Begründung wurde angeführt, dass bei vornehmlich marktstrukturbedingten Störungen des Wettbewerbs deutsche Kartellbehörden anders als die britische Competition and Markets Authority (CMA) bislang nicht effektiv eingreifen könnten.
Als Abhilfemaßnahmen sind im Regelfall vor allem verhaltensorientierte oder quasi-strukturelle Verpflichtungen vorgesehen. Dazu zählen insbesondere:
Wenn solche Maßnahmen aber nicht erfolgsversprechend sind, kann das Bundeskartellamt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als letztes Mittel eine Entflechtung von Unternehmen anordnen. Adressaten dieser schärfsten Maßnahme können nur marktbeherrschende Unternehmen oder solche mit überragender marktübergreifender Bedeutung für den Wettbewerb („Gatekeeper“) sein. Bei einer vorherigen fusionskontrollrechtlichen Freigabe oder Ministererlaubnis sieht § 32f GWB jedoch einen grundsätzlichen Vertrauensschutz von zehn Jahren vor.
Zur Abwendung dieser Maßnahmen besteht für betroffene Unternehmen die Möglichkeit, sich mit dem Bundeskartellamt über eine Verpflichtungszusage zu verständigen. Die durch das Bundeskartellamt für verbindlich zu erklärende Verpflichtungszusage bindet im Gegenzug das Bundeskartellamt, von den genannten Maßnahmen keinen Gebrauch zu machen.
Ferner kann das Bundeskartellamt nun als weitere Maßnahme nach einer Sektoruntersuchung Unternehmen verpflichten, relevante Zusammenschlüsse zur Fusionskontrolle auch dann anzumelden, wenn die beteiligten Unternehmen nur sehr geringe Umsätze erzielen. Damit soll der Unternehmenskonzentration vorgebeugt werden. Voraussetzung hierfür ist, dass die Sektoruntersuchung Anhaltspunkte dafür ergeben hat, dass zukünftige Zusammenschlüsse den Wettbewerb in der betreffenden Branche erheblich behindern würden und der Erwerber im letzten Geschäftsjahr im Inland mehr als 50 Millionen Euro, das Zielunternehmen mehr als 1 Million Euro umgesetzt hat.
Zwar ermöglicht § 39a GWB auch nach bisheriger Rechtslage eine Verpflichtung zur Zusammenschlussanmeldung unterhalb der Anmeldeschwellen des § 39 GWB. Insbesondere durch die noch niedrigeren Umsatzschwellen verschärft § 32f GWB die bestehende Regelung aber deutlich.
Auch das Instrument der Vorteilsabschöpfung ist nicht neu. Nach § 34 GWB konnte die Kartellbehörde auch bisher eine Gewinnabschöpfung vornehmen, sofern ein verbleibender Gewinn nicht etwa durch Bußgelder oder Schadensersatzzahlungen egalisiert wurde. Praktisch blieb dies aufgrund rechtlicher Hürden bisher aber wirkungslos. Dem wirkt nun die Doppelvermutung des neuen § 34 Abs. 4 GWB entgegen. Dieser vermutet, dass ein Kartellverstoß erstens einen wirtschaftlichen Vorteil verursacht hat, der zweitens mindestens 1 Prozent der kartellbefangenen Umsätze beträgt. Theoretisch ist die Vermutung widerlegbar, in der Praxis müsste ein Unternehmen allerdings nachweisen, dass es weltweit insgesamt keinen Gewinn in entsprechender Höhe gemacht hat. Die Grenze der Vorteilsabschöpfung liegt bei 10 Prozent des weltweiten Konzerngesamtjahresumsatzes im Geschäftsjahr vor der Entscheidung.
Die Novelle ermöglicht es dem Bundeskartellamt zudem, eigenständige Ermittlungen bei einer möglichen Nichteinhaltung der Art. 5, 6 oder 7 DMA durch Gatekeeper durchzuführen. Die Kompetenz des Amtes beschränkt sich dabei jedoch auf die Unterstützung der Europäischen Kommission, die für die Feststellung von Verstößen gegen den DMA alleinzuständig bleibt.
Neu ist auch, dass einer solchen Feststellungsentscheidung der Kommission Bindungswirkung für Schadensersatzprozesse (follow-on) vor deutschen Gerichten zukommt, die dank einer Änderung des § 95 GVG nun auch für Zivilverfahren im Zusammenhang mit dem DMA zuständig sind.
Die 11. GWB-Novelle gibt dem Bundeskartellamt weitreichende und eingriffsintensive Instrumente an die Hand, um marktstrukturellen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Neu ist, dass dies gänzlich ohne vorangegangene kartellrechtswidrige Verhaltensweisen geschehen kann. Diese Entwicklung stellt einen Paradigmenwechsel und eine Abkehr vom bekannten Drei-Säulen-Modell des Kartellrechts – Kartellverbot, Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle – dar. Für Unternehmen gilt daher, dass Sektoruntersuchungen nun als Vorzeichen potenzieller kartellrechtlicher Eingriffsmaßnahmen zu werten sind. Von Sektoruntersuchungen betroffenen Unternehmen ist daher dringend geraten, zeitnah qualifizierte kartellrechtliche Beratung zu suchen.
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